Neurobiologische Grundlagen von Essstörungen
Essstörungen sind schwerwiegende psychischen Erkrankungen, die oft mit erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag, sozialen Rückzug und schweren körperlichen sowie psychischen Folgeerscheinungen einhergehen. Trotz großer Unterschiede in der Ausprägung, zeigen sich bei vielen Betroffenen intensive gedankliche und emotionale Auseinandersetzungen mit Essen, Körper und Gewicht. Essstörungen treten meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter auf, wobei Rückfälle nicht ungewöhnlich sind. Viele Betroffene erleben einen hohen inneren Leidensdruck, selbst wenn dies nach außen hin nicht unmittelbar erkennbar ist. Mehr Informationen zur Erkrankung und den Therapieangeboten in unserem Zentrum für Essstörungen finden Sie hier.
Diagnostisch werden verschiedene Formen der Essstörungen unterschieden – darunter die Anorexia Nnervosa („Magersucht“), die Bulimia Nnervosa und die Binge-Eating-Störung. Während sich die körperlichen Folgen und psychischen Belastungen zwischen den Störungsbildern unterscheiden können, weisen sie doch zentrale Gemeinsamkeiten auf. So rücken in der aktuellen Forschung neben psychosozialen Risikofaktoren zunehmend auch biologische Mechanismen in den Fokus. Studien zeigen etwa Veränderungen in Hirnregionen, die für Belohnungsverarbeitung, Impulskontrolle und Emotionsregulation zuständig sind. Auch neuroendokrine Prozesse, etwa im Hunger- und Sättigungssystem, spielen eine Rolle.
Bei der Anorexia Nnervosa stehen beispielsweise langfristige körperliche Folgen des Untergewichts, hormonelle Veränderungen und kognitive Einschränkungen im Vordergrund. Neurobiologisch wird unter anderem eine reduzierte Belohnungssensitivität sowie eine ausgeprägte kognitive Kontrolle diskutiert. Welche biologischen Faktoren die Erkrankung begünstigen, ist bisher allerdings wenig bekannt. Ein Weg, die durch das Untergewicht bedingten sogenannten "State"- von den eher stabilen "Trait"-Markern zu unterscheiden, ist die Untersuchung von Patientinnen mit Aorexia Nervosa in verschiedenen Stadien der Erkrankung, z.B. im akuten, symptomatischen Stadium und nach Gesundung. Bei der Bulimia Nnervosa deuten Studien auf ein Ungleichgewicht zwischen impulsiven und kontrollierenden Netzwerken im Gehirn hin – insbesondere im Zusammenhang mit Stressverarbeitung und Selbstregulation. Die Binge-Eating-Störung ist häufig mit einem gesteigerten Ansprechen auf hochkalorische Reize verbunden und zeigt Parallelen zu suchthaftem Verhalten. Trotz dieser Unterschiede ist die Forschung zunehmend darum bemüht, krankheitsübergreifende Muster zu identifizieren, um individualisierte Behandlungsansätze entwickeln zu können.
Ein zentrales Ziel unserer Arbeit ist es, die neuropsychobiologischen Grundlagen von Essstörungen besser zu verstehen – nicht zuletzt, um neue Wege für Prävention und Therapie zu eröffnen. Dabei ist es uns wichtig, mit einem respektvollen Blick auf das subjektive Erleben der Betroffenen zu schauen und Stigmatisierung aktiv entgegenzuwirken. Essstörungen: Darüber hinaus arbeiten wir eng mit dem Netzwerk Essstörungen Sachsen (NESSA) zusammen, das sich zum Ziel gesetzt hat, allen Patienten mit Essstörungen eine exzellente Versorgung zu bieten und deren Familien bestmöglich zu unterstützen.
Unser Untersuchungsspektrum reicht dabei von struktureller und funktioneller Magnetresonanztomografie, über Fragebogenverfahren und strukturierten Interviews, digital phenotyping mittels Smartphones bis hin zur Analyse von Hormonen und genetischen Varianten (Details siehe unten). Ein Teil unserer Forschungsprojekte zu kognitiven und emotionalen Prozessen sowie den dazugehörigen neuronalen Netzwerken führen wir unter dem Dach des Sonderforschungsbereichs (SFB 940)auch in Forschungsverbünden innderhalb der TU Dresden durch. Erste Veröffentlichungen zu unseren Ergebnissen sind u.a. hier aufgelistet. Konkrete Informationen zur Teilnahme an unserer Studie gibt es hier.
Strukturelle & funktionelle Magnetresonanztomografie
Bei der Magnetresonanztomografie (MRT) befindet sich der Kopf während der Untersuchung im Magnetfeld einer großen Röhre. Diese Röhre wird auch Tomograf oder „Scanner“ genannt. Dabei werden keine radioaktiven Substanzen oder ionisierende Strahlung verwendet. Die MRT-Technik ist sicher und wird weltweit bereits seit über 320 Jahren eingesetzt. Während der Untersuchung stehen die Probanden durchgängig über Lautsprecher und Mikrofon mit dem Untersucher in Verbindung.
Die strukturelle MRT-Untersuchung ermöglicht eine detaillierte bildliche Darstellung und Analyse aller Teile des Gehirns. Allerdings erfüllt eine im Rahmen der Forschungsstudie angefertigte MRT-Aufnahme nicht alle Anforderungen, die für eine neuroradiologische Diagnostik notwendig sind. Besondere Einstellungen am Scanner erlauben es uns auch, die Verbindungen zwischen den Gehirnregionen (weiße Substanz) darzustellen (DTI).
Bei der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) geht es um die bildliche Darstellung der Aktivität des Gehirns. Hierzu präsentieren wir zum Beispiel Entscheidungs- oder Gefühlsaufgaben, um dem Gehirn „bei der Arbeit“ zuzuschauen. Damit können wir den Ablauf der Informationsverarbeitung im Gehirn vom Reiz bis zur Handlung besser nachvollziehen, und herausfinden, wo Unterschiede zwischen Gesunden und Patientinnen mit Magersucht Essstörung bestehen - bei der Empfindung von Reizen, bei der Bearbeitung von Reizen oder bei der Handlung. Bei einem anderen Experiment studieren wir die Hirnaktivität der Probanden in Ruhe. Dabei lässt sich gut berechnen, welche Hirnregionen untereinander gut vernetzt sind (functional connectivity). Für all diese Experimente gilt: Die fMRT-Technik erlaubt keine Aussagen über einzelne Probanden, sondern kann nur Gruppenunterschiede feststellen.
Fragebogenverfahren & Ecological Momentary Assessment
Um unsere Ergebnisse in Beziehung mit psychischen Symptomen setzen zu können, führen wir ein klinisches Interview durch und bitten alle Probanden, mehrere Fragebögen auszufüllen. Ein Problem von Fragebogenverfahren ist bislang, dass in der Vergangenheit erlebte Ereignisse und Emotionen bewertet werden sollen. Diese rückblickende Bewertung ist möglicherweise verzerrt und somit weniger aussagekräftig. Für unsere Datenerhebung nutzen wir deswegen auch die Technik des Ecological Momentary Assessments, d.h. wir benutzen Smartphones, um unsere Probandinnen mehrfach täglich in ihrem Alltagsleben mit einer App zu befragen. Dies ermöglicht uns eine objektivere Datenerfassung und -verarbeitung. In Zukunft soll dieses Verfahren auch für neue Therapieansätze, z.B. in der Rückfallprophylaxe, genutzt werden.
Endokrinologie & Genetik
Bei Essstörungen, vor allem bei Magersucht, kommt der Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht. Veränderungen der Spiegel von Hormonen (z.B. Leptin, Cortisol), von Neuropeptiden oder anderen Biomarkern können im Blut, Urin oder Haar gemessen werden. Einige, aber nicht alle Marker normalisieren sich im Rahmen der Gewichtszunahme bei einer akuten Anorexie. Derzeit beschäftigt uns die Frage, inwieweit die Veränderung bestimmter Hormonspiegel psychische Symptome weiter verschlimmern kann und ob es dafür neuronale Korrelate gibt. Auch erbliche Faktoren, also genetische Polymorphismen, spielen dabei möglicherweise eine Rolle.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. PhD S. Ehrlich, Dipl.-Inf. D. Geisler, Dr. F. Bernardoni, Dr. I. Böhm, Dr. M. Seidel, Dr. J. King
Kooperationspartner:
Prof. Dr. Phil. T. Goschke, Collaborative Research Centre (SFB 940) Volition and Cognitive Control, TU Dresden
Prof. Dr. M. Smolka, Section of Systems Neuroscience, Faculty of Medicine, University Hospital C. G. Carus, TU Dresden
Prof. Dr. C. Corell, Department of Child and Adolescent Psychiatry,Psychosomatic Medicine and Psychotherapy, Charité Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. C. Jacobi, Institute of Clinical Psychology and Psychotherapy, TU Dresden
Prof. Dr. med. B. Herpertz-Dahlmann, Department of Child and Adolescent Psychiatry and Psychotherapy, RWTH Aachen
Prof. Dr. med. F. Zepf, Department of Child and Adolescent Psychiatry and Psychotherapy, Jena
Prof. Dr. med. J. Hebebrand, Department of Child and Adolescent Psychiatry, Psychosomatic Medicine and Psychotherapy, LVR-Klinikum Essen
Prof. Dr. A. Hinney, Department of Child and Adolescent Psychiatry, Psychosomatic Medicine and Psychotherapy, LVR-Klinikum Essen